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Buchtipp: Was von Deutschland übrig bleibt – Eine Wanderreportage“ von Sebastian Christ

Cover Was von Deutschland übrig bleibt.

Dies ist die Geschichte ein­er Wan­derung durch die Mitte Deutsch­lands. Sie fand im Win­ter statt, wenn die deutsche Prov­inz wed­er Postkarten­bilder noch Tra­ch­t­en­tanz­grup­pen zu bieten hat. Es war ehrlich­er so.“ Bei dieser Wan­derung geht es nicht um schön, weit, hoch oder natur­nah. Es geht darum, sich Ein­drücke davon zu ver­schaf­fen, wie es ist.

Anfang 2013 macht sich der Jour­nal­ist Sebas­t­ian Christ auf den Weg, um der deutschen Prov­inz auf den Zahn zu fühlen. Es soll eine Suche nach dem Land wer­den, in dem er aufgewach­sen ist. In diesem schneere­ichen und kalten Win­ter läuft er 900 Kilo­me­ter. Ein­mal quer durch. Von Ost nach West. Von der pol­nis­chen Gren­ze, über Berlin, Kas­sel und Ruhrpott an die hol­ländis­che Gren­ze. Täglich 40 Kilo­me­ter – manch­mal weniger, manch­mal mehr.
Es ist nicht seine erste Wan­derung dieser Art. Zuvor ist er zweimal spo­radisch gereist, hat Orte besucht, Sach­la­gen beschrieben und kam zu dem Schluss: ihm fehlt der Zusam­men­hang. Wie das alles … aus der Umge­bung und aus der Land­schaft entstand…“

Dies­mal also auf die ehrliche Tour. Ohne Funk­tion­sklei­dung, da hätte er sich wie ein Astro­naut gefühlt, son­dern mit nor­malen Win­terk­lam­ot­ten. Im Ruck­sack: Kam­era, einen alten Lap­top und ein Smart­phone mit Inter­netverbindung — um mit Fre­un­den in Kon­takt zu bleiben, zu schreiben und um die Über­nach­tung am Etap­pen­ziel am Abend zu pla­nen. Straße­nat­las und GPS schmeißt er schon in Berlin in den Müll. Unnötiger Bal­last. Es ist ihm nicht nach pla­nen. Ich wollte ein­fach loslaufen.“ Den Win­ter, das Land, die Leute mit Haut und Haaren spüren. Wan­dernd. Ste­hen bleiben, guck­en, fotografieren wann, wo und wie lange es eben braucht.

Auch das The­ma Demographis­ch­er Wan­del in Deutsch­land” ist keine Ein­tags­fliege. Die Prov­inz liegt Christ am Herz. Er ist dort geboren. Der Jour­nal­ist hat schon früher dazu geschrieben. Beim Online-Mag­a­zin Stern.de hat er eine Rei­he dazu veröf­fentlicht. Am frühen Abend, wenn weniger Leute online sind als zur Mit­tagszeit. Erst mal aus­pro­bieren, wie das Pub­likum reagiert. Das will mehr. Die Serie wurde mit dem Axel-Springer-Preis 2009 aus­geze­ich­net. So ent­stand die Idee zu diesem Buch.

Die These: Der demographis­che Wan­del lässt die Repub­lik von innen her schrumpfen. Während die größten Städte vom Zuzug junger Men­schen prof­i­tieren, lei­det die Prov­inz gle­ich mehrfach: Zu wenige Kinder wer­den dort geboren, zu viele Tal­ente wan­dern ab und die Bevölkerung altert über­durch­schnit­tlich stark.“ Obwohl hier der deutsche Mit­tel­stand zu Hause ist, der über 60 Prozent der Arbeit­splätze in diesem Land stellt. Und obwohl kluge Ideen und Erfind­un­gen immer wieder hier geboren wur­den: Das Tele­fon im süd­hes­sis­chen Friedrichs­dorf, das Kugel­lager in Schwe­in­furt, der Com­put­er in Hoy­er­swer­da — und der Buch­druck in Mainz, ergänze ich als Lokalpatriotin! ;-)

Und was ist das Ende vom Lied? So viel sei ver­rat­en: Deutsche Prov­inz ist nicht deutsche Prov­inz. Es gibt Unter­schiede in Ost und West. Hier hat man die Ver­gan­gen­heit abgewick­elt, dort lässt man sie in Ruhe ster­ben. Es gibt Unter­schiede bei den Men­schen. Sebas­t­ian Christ ist kein Genuss­wan­der­er son­dern ein Fort­be­we­gungswan­der­er, der eine Strecke, die man nor­maler Weise mit dem Auto fahren würde, zu Fuß geht. Möglichst ohne Umwege. In Deutsch­land muss er dafür in Kauf nehmen, um Auto­bahnkreuze herumzu­laufen und auch auf Straßen zu laufen. So wird er im Laufe der Wan­derung nicht nur Experte für Gast­ge­ber, son­dern auch für Aut­o­fahrer. Seine Typolo­gie hat nichts mit Ost und West zu tun, manch­mal sog­ar noch nicht mal mit der Herkun­ft der Menschen.

Ich war mit­tler­weile gut darin zu erken­nen, wer mir aus Unaufmerk­samkeit oder Boshaftigkeit gefährlich wer­den kon­nte. Das Star­ren war ein guter Indika­tor: … dann sprang ich zur Seite. Vor­sichtige Schalt­be­we­gun­gen, Sicher­heits­blicke in den Gegen­verkehr oder manch­mal ein Winken, das waren Zeichen guten Willens.“

Hin und wieder nicke ich mit dem Kopf. Ja, die ein oder andere Sit­u­a­tion, die ein oder andere Sorte Men­sch habe ich selb­st auf meinen Über­land-Wan­derun­gen im Süd­west­en im ver­gan­genen Som­mer erlebt. Aber Christs Erleb­nisse gehen natür­lich weit­er, sind inten­siv­er als das, was man je auf ein­er Tageswan­derung über die Dör­fer erleben kön­nte. Er geht den Zusam­men­hän­gen absichtsvoll auf den Grund: Was hat die geo­graphis­che Lage ein­er deutschen Stadt, ein­er deutschen Region und den Men­schen, die dort leben, mit deren Zukun­ftschan­cen zu tun?

Bei manchen Schilderun­gen kön­nte man heulen, auch wenn der Autor über­haupt nicht auf die Trä­nen­drüse drückt. Er erzählt, berichtet nur, was im begeg­net. Am meis­ten berührt haben mich die Pas­sagen im Gebi­et der ehe­ma­li­gen DDR-Gren­ze: Das ein­drucksvoll­ste Licht, das ich auf mein­er Wan­derung bish­er sah, war das Leucht­en von Dud­er­stadt,… Und wie man dieses Leucht­en erlebt: Von Brehme aus kom­mend, als ein Strahlen hin­ter den let­zen Hügeln des Ohmge­birges. Vor fün­fundzwanzig Jahren noch, da blieb nichts weit­er als das Strahlen. Es gab kein Fortkom­men hin­ter Eck­linger­rode, alle Wege waren hier zu Ende. Direkt hin­ter dem Ort ver­lief die innerdeutsche Grenze.”

Hin und wieder streift der Jour­nal­ist sog­ar meine eigene Geschichte: In der Stadt Erkn­er vor den Toren Berlins kommt er vor­bei. Da haben meine Mut­ter und meine Groß­mut­ter vor dem Krieg gelebt. In Kas­sel macht er Sta­tion. Dort haben die Großel­tern väter­lich­er­seits gewohnt. Dort wur­den Mut­ter, Onkel und Groß­mut­ter auf der Flucht aus­ge­bombt. Ich höre meine Oma erzählen, wie sie die Marme­lade und das Eingemachte aus dem Keller des zer­störten Haus­es gebor­gen haben, wo die Fam­i­lie untergekom­men war. An diesen Stellen im Buch schweifen meine Gedanke ab und ich komme ins Denken, wie bei mir alles zusammenhängt.

Sebas­t­ian Christs Wan­der­bericht im han­dlichen Tage­buch­for­mat habe ich über alle 297 Seit­en ges­pan­nt ver­fol­gt; mit der Pro­filka­rte im Maßstab 1: 2.400.000 auf dem Schoß. Mit der Lupe Städte­na­men und Land­schaften suchend, bin ich ihm quer durchs Land gefol­gt. Die Luft anhal­tend als er irgend­wo im Hochsauer­land in ein Schnee­treiben gerät und sich mit dem Blitz sein­er Kam­era Sichtweite ver­schafft. Nur eines der vie­len Aben­teuer auf dieser an sich schon aben­teuer­lichen Unternehmung.

Was von Deutsc­hand übrig bleibt“ ist eine nüchterne Bilanz und den­noch voller Emo­tion. Eine Reportage, die beschreibt, was ein­er sieht, hört und spürt. Ein Wan­der­er, der sich (fast) nichts schenkt. Der es wirk­lich wis­sen will. Sehr span­nend, lehrre­ich und nach­den­klich machend. Was die Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft unseres Land bet­rifft vor allem, aber auch hin­sichtlich des Wan­derns, das zu Fuß unter­wegs sein in einem Autofahrerland.

Her­zlich Dank dem Lin­gen Ver­lag für das Rezensionsexemplar.

Christ, Sebas­t­ian: Was von Deutsc­hand übrig bleibt — eine Wan­der­re­portage”, Edi­tion Lin­gen Stiftung, 2013, 9, 95 Euro

Sie erhal­ten das Buch in Ihrer Buch­hand­lung vor Ort und online auf der Web­site des Verlags.

Heike Tharun

Autor:

Ich bin Heike Tharun. Unterwegs in den Mittelgebirge rund um meine Heimatstadt Mainz: Oberes Mittelrheintal, Nord-Pfälzer Bergland, Hunsrück, Taunus + in meiner zweiten Heimat: das Oberallgäu bei Oberstdorf, Bad Hindelang, Hinterstein. Ich bin leidenschaftliche Bergwanderin. Bergab-Floh und Bergauf-Schnecke. Ich kenne Höhenangst und weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, mit schmerzendem Knie abzusteigen. Bei Problemen gebe ich nicht gerne klein bei, vor allem wenn mir etwas wichtig ist. Seit 6 Jahren gebe ich als Sportmental-Coach mein Wissen und meine Erfahrungen in Bergmut-Seminaren und -Coachings weiter. Auf Heimatwandern.de zeige ich Dir, wie Du auch mit hohem Sicherheitsbedürfnis mit den Herausforderungen der Berge/der Natur heimisch wirst ohne den eigenen Rhythmus aus den Augen zu verlieren. Du lernst Dein Potenzial abzurufen und mit Selbstvertrauen und Zuversicht in Deinem Lieblingsgebirge unterwegs zu sein! Abonniere meinen Bergmut-Brief, verschenke einen Bergmut-Gutschein oder bestelle fürs kulinarische Gipfelglück unser Buch aus dem Land der 1000 Hügel.

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