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Was wäre, wenn Du um die Ecke gucken könntest [oder der Wunsch nach Stielaugen]?

Wandern im Mittelrheintal

Nicht zu wis­sen, welch­es Ter­rain, welche topographis­chen Bedin­gun­gen einen erwarten bei ein­er Berg­tour kann Stoff für stres­siges, belas­ten­des Kopfki­no sein. Nicht nur im Vor­feld, son­dern ins­beson­dere während der Wanderung.

Wie geht es bei einem unein­sichti­gen Wegver­lauf weit­er? Wie schaut der Pfad hin­ter der Fel­skante aus? Wie steil geht es da oben hin­ter dem Joch nach unten? Das sind Fra­gen, mit denen sich meine Teil­nehmer unter­wegs rumgeschla­gen haben und die Ihre schö­nen Berg­touren mitunter zur Tor­tur gemacht haben. Bevor sie zu mir in den Kurs gekom­men sind.

Deshalb wün­schen sich viele Stielau­gen [salopp ausgedrückt]:
Wenn ich doch nur um die Ecke schauen könnte!“

Lei­der haben wir Men­schen keine Stielau­gen. Drohnen als Späher einzuset­zen, wäre zwar tech­nisch möglich, stelle ich mir aber eher unprak­tisch vor. Auch die beste topographis­che Karte hil­ft nur weit­er, wenn ich sie lesen kann und reich­lich Erfahrung habe, um das Bild der Karte real­ität­snah inter­pretieren zu können.

Wir müssen uns also beim Berg­wan­dern mit ein­er gewis­sen Ungewis­sheit arrang­ieren, was das vor uns liegende Ter­rain und die Beschaf­fen­heit des Weges betrifft.

Aber: Ungewis­sheit fördert unsichere Gefüh­le und trig­gert das [Höhe-]Angstsystem im Gehirn weit­er an. Ungewis­sheit wirkt qua­si wie Wind auf Feuer. Jeden­falls wenn man unbe­dacht damit umgeht.

Wo wir Bedin­gun­gen nicht verän­dern kön­nen, hil­ft es oft, die Sicht auf diese Bedin­gun­gen zu verändern.

Wir haben keine Stielau­gen. Aus biol­o­gis­chen Grün­den kön­nen wir nicht um die Ecke sehen. Aber, wir haben einen präfrontal­en Cor­tex und kön­nen um die Ecke denken!!!

Genau! Wir machen ein Gedanken­spiel und drehen den Spieß um.

Was wäre denn eigentlich, wenn wir um die Ecke schauen könnten?!

Klingt auf den ersten Blick ver­lock­end. Beschäftigt man sich genauer mit dieser Frage, kom­men allerd­ings unlieb­same Kon­se­quen­zen zum Vorschein.

Sie betr­e­f­fen Moti­va­tion, Konzen­tra­tion und Funk­tion des Gehirns.

 

 

Ich lade Dich mit diesem Artikel ein, eine andere Sichtweise auf Ungewis­sheit ken­nen zu ler­nen. Eine Per­spek­tive, die Dir hil­ft, in angstaus­lösenden Sit­u­a­tio­nen in den Bergen weiterzukommen.

Ungewissheit ist die Voraussetzung von Wissen

Sei nicht so neugierig!“, ist ein dum­mer Satz. Er wird gerne von Men­schen benutzt, die etwas zu ver­ber­gen haben. Das Gegen­teil gilt. Sei neugierig!“ Denn Neugierde ist nichts Ver­w­er­flich­es, son­dern ein wichtiger, wenn nicht der wichtig­ste Antrieb des Men­schen und die Voraus­set­zung für Leben überhaupt.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich das kapiert habe. Um ehrlich zu sein, habe ich mehr als mein halbes Leben für diese Erken­nt­nis gebraucht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Neugierde ist der Wun­sch Klarheit zu bekom­men, Wis­sen zu gener­ieren, Prob­leme zu lösen. Und um Neugierde zu empfind­en, brauchen wir Ungewis­sheit. Ungewis­sheit ist also kein Nachteil, son­dern im Gegen­teil, Ungewis­sheit ist die Grund­lage von Ler­nen und Wissen.

Wenn unsere Vor­fahren Stielau­gen gehabt hät­ten, hät­ten sie keine Neugierde emp­fun­den. Sie wären nicht los­ge­zo­gen, um zu schauen, was sich hin­ter der Fel­skante, der näch­sten Weg­biegung ver­birgt. Ver­mut­lich würde die Men­schheit heute immer noch in Höh­le hausen. Leben ist Bewe­gung, Entwick­lung, Weit­erkom­men. Ungewis­sheit und der Wun­sch diesen Zus­tand zu ändern hat dazu geführt, dass Men­schen heutzu­tage [in der Regel] eine angenehmere Art von Dach über dem Kopf haben.

Wenn wir um die Ecke schauen kön­nten, wären wir weniger neugierig. Klar: manch­mal würde dieses zusät­zliche Wis­sen vielle­icht dazu führen, dass wir entspan­nt weit­erge­hen. Aber was wäre, wenn wir sehen kön­nten, dass der Weg noch aus­ge­set­zter, steil­er, hol­priger wird. Was würde uns dann noch motivieren, dranzubleiben, die Her­aus­forderung zu wagen, mit der Option zu ler­nen, uns weit­erzuen­twick­eln, Mut zu erleben und das daraus resul­tierende Gefühl der Freude zu genießen?

Betra­chte Deine biol­o­gis­che Fähigkeit, nur drei­di­men­sion­al sehen zu kön­nen, als Geschenk der Natur, als einge­bauter Beweg­grund, der Dich in die Lage ver­set­zt Neugierde zu empfind­en und der Dich weit­er­bringt im Leben.

Zu viel Wissen zum falschen Zeitpunkt lenkt ab

Am Anfang meines Kurs­es Höhenangst über­winden“ mache ich mit meinen Teil­nehmern immer eine kleine Konzen­tra­tionsübung. Ein Exper­i­ment. Die Auf­gabe ist, sich auf eine bes­timmte Auf­gabe zu konzen­tri­eren, die unmit­tel­bar mit dem zu tun hat, was wir ger­ade tun: z.B. den Berg run­terge­hen. Statt miteinan­der zu quatschen, den eige­nen anges­pan­nten Gedanken nachzuge­hen oder mit dem Kopf schon irgend­wo im Berg fest zu hängen.

Meine Erfahrung zeigt: Diese Auf­gabe fällt vie­len Leuten zunächst schw­er. Zu viel anderes beschäftigt sie. Vor allem natür­lich, was sie an diesem Tag erwartet und ob sie dem gewach­sen sind. Also alles Dinge, die vor­erst nur in ihrem Kopf existieren, weil sie die Route noch gar nicht ken­nen. Statt sich auf das zu konzen­tri­eren, was vor ihren Augen liegt, lassen sie sich von Kopfki­no ablenken.

Stell‘ Dir jet­zt mal vor, Du kön­ntest zusät­zlich zum Kopfki­no auch noch um die Ecke guck­en. Das wäre ja noch mehr Ablenkung vom Wesentlichen [sich­er run­terge­hen]. Statt Dich auf den Weg vor Dir zu konzen­tri­eren, wärst Du nun ver­sucht nicht nur mit den Gedanken, son­dern auch mit Deinen Augen ständig um Län­gen voraus zu sein. Du würdest Dich also mit Din­gen beschäfti­gen, die noch gar nicht anstehen.

So gese­hen nutzt uns die vorder­gründi­ge Ein­schränkung nicht um die Ecke schauen zu kön­nen“ viel mehr als dass sie uns schadet. Ein Ablenkungs­fak­tor weniger, den wir beim Gehen in unge­wohn­tem Ter­rain men­tal in den Griff bekom­men müssen.

Ungewis­sheit kann also auch ein Geschenk sein. Wenn wir akzep­tieren, das Infor­ma­tion nicht immer die Lösung des Prob­lems sind.

Wenn Du Dich konzen­tri­eren willst oder musst, brauchst Du Ruhe.

Das Gehirn ist sich selbst das Nächste und unser Freund

Unser Gehirn ist ein biol­o­gis­ches Hochleis­tungssys­tem. Die Tüftler dieser Welt haben es bis zum heuti­gen Tag nicht geschafft, die Leis­tung des men­schlichen Gehirns tech­nisch exakt nachzubauen.

Unser Gehirn funk­tion­iert unter anderem deshalb so rei­bungs­los, weil die Evo­lu­tion einen automa­tis­chen Selb­stschutz einge­baut hat.

Dieser Selb­stschutz sorgt dafür, dass nur so viele Infor­ma­tio­nen ins Gehirn reinkom­men, wie es ver­ar­beit­en kann. Man spricht in diesem Zusam­men­hang von selek­tiv­er Wahrnehmung. Nur max­i­mal fünf Prozent der ange­bote­nen visuellen Infor­ma­tio­nen nimmt das Gehirn auf.

Das Wahrnehmungsver­mö­gen der Men­schen ist also natür­lich begren­zt. Das ist kein Nachteil. In Wirk­lichkeit ist dieser neu­ro­bi­ol­o­gis­che Fil­ter ein sin­nvolles Reg­u­la­tiv, das den Infor­ma­tions-Overkill ver­hin­dert und den Betrieb unseres Gehirns gewährleistet.

Das wir nicht um die Ecke guck­en kön­nen ist Teil dieser sin­nvollen Mechanismen.

Mit anderen Worten, hät­ten wir Stielau­gen, wäre unser Gehirn total über­fordert. Infor­ma­tions-Tsunamis wür­den unsere Synapsen und neu­ronalen Net­zw­erke regelmäßig über­schwem­men und lahmlegen.

Aber eigentlich ist auch dieser Gedanke zu kurz gedacht.

Denn wenn man es genau nimmt, würde die schein­bar kon­ge­niale Fähigkeit, näm­lich mit Stielau­gen um Felsvor­sprünge schauen zu kön­nen ohne fak­tisch um sie herumzuge­hen, in Wirk­lichkeit gar nichts bewirken.

Also wed­er Overkill noch Mehrw­ert sind zu erwarten.

Die Menge der Infor­ma­tio­nen, die das Innere des Gehirns erre­ichen, ist biol­o­gisch limitiert.

Unsere biol­o­gis­chen Regler wür­den ein­fach dicht machen.

Jede zusät­zliche Menge an Wahrnehmung und Infor­ma­tion bringt nichts.

Um das Gehirn kom­men wir nicht drum herum. Das Gehirn schützt sich selb­st, da kön­nen wir so viel wollen und wün­schen, wie wir wollen: Den biol­o­gis­chen Wahrnehmungs­fil­ter hebeln wir damit nicht aus.

Vielmehr ist unser Gehirn ein Schritt-für-Schritt-Geher. Eins nach dem anderen. Wenn wir diese Bedin­gung respek­tieren, machen wir erstaunliche Erfahrun­gen, wie ich bei mir selb­st und bei meinen Kursteil­nehmern immer wieder feststelle.

Stielaugen: Berechtigter Wunsch oder kann der weg?

Was hat uns dieses Gedanken­spiel nun gebracht?
Was kön­nen wir daraus lernen?

Nun, zum einen, dass eine gewisse Ungewis­sheit notwendig ist, um uns weit­erzuen­twick­eln. Wenn wir um die Eck­en guck­en kön­nten, gin­ge uns die Fähigkeit zur Neugierde ab. Ohne Neugierde fehlte uns der Antrieb Neues zu erkun­den, zu ent­deck­en, auszupro­bieren und uns zu freuen, wenn wir weit­ergekom­men sind.

Zum anderen unter­stützt uns unsere eingeschränk­te Wahrnehmungs­fähigkeit darin, uns auf das zu konzen­tri­eren, was vor uns liegt und worum es ger­ade im Moment geht. Sprich es bringt mehr Sicher­heit. Mehr Möglichkeit­en das Ter­rain zu begutacht­en, in dem ich mit Stielau­gen um die Ecke gucke zum Beispiel, führt nicht automa­tisch zu einem sicheren Gefühl.

Außer­dem reg­uliert unser Gehirn die Wahrnehmung und die Menge der Infor­ma­tio­nen, die über die Sin­nesor­gane reinkom­men. Dieser Selb­stschutz bewirkt, dass zusät­zliche Infor­ma­tio­nen, die über eine weit­ere Art der Wahrnehmung dem Gehirn zuge­führt wür­den, rein gar nichts bewirken wür­den. Mehr bringt automa­tisch nicht mehr.

Deshalb ist es sin­nvoller, zu ver­ste­hen, warum wir so sind wie wir sind und unsere Stärken voll auszus­pie­len, statt uns über den ange­blichen Man­gel zu ärg­ern, damit unser Angst­sys­tem anz­u­fachen und wertvolle Energie fürs Ärg­ern zu verschwenden.

Um die Ecke guck­en kön­nen [Stielau­gen], bedeutet also auf den Punkt gebracht: per­sön­lich­er Still­stand, eher mehr Unsicher­heit als Sicher­heit und bringt de fac­to rein gar nichts, weil unser Gehirn eigentlich alleine dafür sorgt, dass es uns gut geht, wenn wir es machen lassen!

Der ver­meintlich biol­o­gis­che Nachteil nicht um die Ecke guck­en zu kön­nen“ ist bei näher­er Betra­ch­tung eine kluge Ein­rich­tung der Natur.

Also weg mit diesem from­men Wun­sch nach Stielaugen! :-) 

Heike Tharun

Autor:

Ich bin Heike Tharun. Unterwegs in den Mittelgebirge rund um meine Heimatstadt Mainz: Oberes Mittelrheintal, Nord-Pfälzer Bergland, Hunsrück, Taunus + in meiner zweiten Heimat: das Oberallgäu bei Oberstdorf, Bad Hindelang, Hinterstein. Ich bin leidenschaftliche Bergwanderin. Bergab-Floh und Bergauf-Schnecke. Ich kenne Höhenangst und weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, mit schmerzendem Knie abzusteigen. Bei Problemen gebe ich nicht gerne klein bei, vor allem wenn mir etwas wichtig ist. Seit 6 Jahren gebe ich als Sportmental-Coach mein Wissen und meine Erfahrungen in Bergmut-Seminaren und -Coachings weiter. Auf Heimatwandern.de zeige ich Dir, wie Du auch mit hohem Sicherheitsbedürfnis mit den Herausforderungen der Berge/der Natur heimisch wirst ohne den eigenen Rhythmus aus den Augen zu verlieren. Du lernst Dein Potenzial abzurufen und mit Selbstvertrauen und Zuversicht in Deinem Lieblingsgebirge unterwegs zu sein! Abonniere meinen Bergmut-Brief, verschenke einen Bergmut-Gutschein oder bestelle fürs kulinarische Gipfelglück unser Buch aus dem Land der 1000 Hügel.

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